Die Ahnen unserer Hunde: Müllschlucker statt edle Jäger?!
Lebensweise und Rudelstrukturen von Wölfen wurden lange Zeit als Argumentationslinien in der Hunde-Erziehung und als Grundlage des Zusammenlebens von Hund und Mensch heran gezogen. Das Wissen um aktuelle Erkenntnisse aus der Wolfsforschung (und darüber, wie es in frei lebenden Wolfsrudeln wirklich zugeht) ist hilfreich, um Dominanz- und Rudeltheorien der alten Schule überwinden zu helfen. Aber wir sollten unseren Blick auch ein wenig vom Wolfsrudel abschweifen lassen, denn: Wolfsverhalten als DAS Erklärungsmuster für das Verhalten unserer Hunde greift offenbar nicht!
Die amerikanischen Canidenforscher und Verhaltensbiologen Raymond und Lorna Coppinger gehörten zu den ersten, die eine andere – und sehr plausible – Theorie publik gemacht haben. Das Ergebnis, zu dem sie in jahrelangen Forschungsarbeiten gekommen sind: Vieles spricht dafür, dass frühzeitliche Müllkippen rund um die ersten menschlichen Siedlungen statt des legendären Wolfsrudels die Wiege unserer Haushunde waren. Wer mag, kann darüber ausführlich in ihrem Buch nachlesen:
Raymond und Lorna Coppinger: Hunde. Neue Erkenntnisse über Herkunft, Verhalten und Evolution der Kaniden
(animal learn Verlag, ca. € 34,00)
Hier die Essenz ihrer Theorie, der sich inzwischen weltweit namhafte Hunde-Experten angeschlossen haben:
Vom Wolf zum Hund: Was wir bisher dachten
Es gab eine Zeit, in der es Wölfe, Schakale und Koyoten gab, aber keine Hunde. Und irgendwann gab es Hunde, und diese waren genetisch anders als Wölfe, Schakale und Koyoten: Wölfe zum Beispiel leben in der Wildnis, vermeiden Menschen und töten ihr eigenes Futter. Hunde hingegen leben rund um die Behausungen der Menschen und lassen sich von ihnen mit Futter versorgen. Sie sind dadurch zähmbar und trainierbar geworden, und dies ist genetisch verankert.
Es hat also eine genetische Veränderung vom Wildtier zum Haushund statt gefunden. Bisher ging man mehrheitlich davon aus, dass dies durch so genannte „künstliche Selektion“ erfolgt ist: Das bedeutet nichts anderes, als dass frühzeitliche Menschen einen Wolfswelpen adoptieren, ihn dann zähmen und trainieren und ihn schließlich mit anderen, auf gleiche Weise gezähmten Wölfen kreuzen. Und heraus kommt der domestizierte Hund. Die Abfolge in diesem Denkansatz lautet also: (erlernt) zahm – (erlernt) trainierbar – (genetisch) domestiziert.
Warum das nicht funktioniert?
Die Coppingers haben nachvollziehbar dargelegt, warum das so nicht funktionieren kann:
1. Ein Wolf ist kaum zu zähmen:
Die Erfahrungen mit der Aufzucht von Wolfswelpen haben gezeigt, dass Wölfe zwar lernen können, Menschen nicht zu fürchten, sich jedoch nie wie Hunde verhalten werden. Damit dieses begrenzte Maß an Zähmung überhaupt möglich ist, muss ein großer Aufwand betrieben werden: So muss der Wolfswelpe bereits bevor er die Augen öffnet, im Alter von etwa zwei Wochen, von seinem Rudel weg genommen werden. Das Management ist nicht einfach: Es werden aufwändige Umzäunungen benötigt, die die Wölfe am Weglaufen hindern. Selbst heutzutage gezüchtete Wolfshybriden (also Mischlinge zwischen Wölfen und Hunden), wie die „Puwos“ im Kieler Haustiergarten rechts im Bild, sind schwierig im Umgang und als Haustiere kaum zu halten. Kaum anzunehmen, dass frühzeitliche Menschen diesen Aufwand tatsächlich betreiben konnten und wollten.
2. Wölfe sind kaum trainierbar:
In einem Wolf Park wurde den Wölfen beigebracht, an der Leine zu gehen und sich von einem Gehege ins andere bringen zu lassen. Viel mehr konnte man allerdings im Training nicht mit ihnen erreichen. Ein eindeutiges Indiz: Es gibt keine Zirkus-Nummern, in denen Wölfe auftreten.
3. Wölfe sind nicht (genetisch) domestizierbar:
Selbst wenn man einzelne Wölfe im beschränkten Maße zähmen und trainieren kann, ändern sie ihre Gene nicht. Erlernte Zahmheit und trainierte Eigenschaften werden nicht vererbt. Auch wenn man davon ausginge, dass unsere menschlichen Vorfahren erkannt hätten, dass es in jeder Population von Wölfen einige leichter zu zähmende gegeben hätte, wäre es kaum möglich gewesen, diese Exemplare miteinander zu kreuzen. Zu bezweifeln ist ohnehin, dass die gerade in festen Siedlungen lebenden Menschen eine große Wolfspopulation bei sich leben hatten und zudem noch in der Lage waren, die Wölfe nach den genetisch zahmeren zu unterscheiden und diese dann noch so zu separieren, dass mit ihnen gezüchtet werden konnte. Hinzu kommt, dass davon ausgegangen wird, dass es vor 15.000 Jahren ausschließlich Wölfe gegeben hat, 8.000 vor Christus jedoch bereits verschiedene Rassen von Hunden. Die Zeitspanne wäre zu kurz gewesen, um Wölfe durch künstliche Selektion zu domestizieren.
Wie war es dann?
Raymond und Lorna Coppinger gehen davon aus, dass sich Wölfe ERST genetisch verändern mussten, um überhaupt von uns Menschen domestiziert werden zu können.
Demnach haben sich unsere Haushunde durch so genannte „natürliche Selektion“ entwickelt: Die Tiere haben sich von selbst an eine neue oder sich ändernde ökologische Nische angepasst – und die hatte in diesem Fall etwas mit uns Menschen zu tun.
Und so könnte es gewesen sein: Der frühzeitliche Mensch schafft eine neue ökologische Nische, indem er sesshaft wird und Dörfer gründet: Dörfer mit Ressourcen an Futter, Sicherheit und guten Fortpflanzungsmöglichkeiten. Einige Wölfe besetzen die Nische und erhalten Zugang zu einer neuen Futterquelle: Sie ernähren sich von menschlichen „Müllkippen“, leben von Essensresten und Latrinen. Die Wölfe, die das tun, müssen genetisch veranlagt sein, eine für Wolfsverhältnisse vergleichsweise geringe Flucht-Distanz zu besitzen. Diejenigen, die genetisch bedingt eine größere Fluchtdistanz aufweisen, sind ständig nervös und laufen viel eher weg als ihre Artgenossen mit der kleineren Flucht-Distanz. Entsprechend haben die von Natur aus zahmeren Wölfe die besseren Fortpflanzungsmöglichkeiten. Sie können sich nicht nur mehr und länger an der menschlichen Müllkippe laben, sondern verbrauchen auch weniger Energie, die sie in ihre Fortpflanzung investieren können.
Der wilde Wolf, Canis lupus, begann also, sich in zwei Populationen aufzuspalten: die eine, die in den Müllkippen menschlicher Behausungen leben konnte und die andere, die dazu nicht in der Lage war und in der Wildnis verblieb.
Die in der Nähe menschlicher Behausungen lebenden Caniden begannen, ihre Form zu ändern. Sie fingen an, wie Hunde auszusehen: Sie hatten einen kleineren Körper, einen kleineren Kopf, einen kleineren Kiefer und ein kleineres Gehirn als Wölfe. Alles optimal angepasst an ihre ökologische Nische: Sie werden zwar konstant mit Nahrung versorgt, bekommen aber im Vergleich zu den jagenden Wölfen Niedrig-Energie-Futter. Das Futter muss gut verwertet werden und braucht nicht dazu genutzt werden, körperlich groß zu werden und große Gehirne zu entwickeln.
Erst diese gegenüber dem Wolf genetisch veränderten Caniden waren vom Menschen zähm- und trainierbar.
Die These der Coppingers lautet entsprechend, dass sich mindestens eine Population von Wölfen selbst gezähmt haben muss. Die Abfolge dieses gedanklichen Ansatzes heißt also: Domestiziert – von Natur aus zahm – von Natur aus trainierbar
Wieso ist es denn überhaupt so wichtig, zu unterscheiden, ob der Hund durch künstliche oder natürliche Selektion entstanden ist?
Nun, dieser kleine, aber feine Unterschied wiegt in etwa so schwer wie der Unterschied zwischen Mensch und Affe. Das Verhalten des Hundes mit dem Verhalten von Wölfen zu vergleichen, ist laut den Coppingers genau so, als würden wir menschliches Verhalten aus dem von Affen ableiten. Wir Menschen sind zwar verwandt mit Affen, aber wir verhalten uns nicht wie Affen und wir denken auch nicht so. Und niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, ständig die Verhaltensweisen von Affen als Erklärungsmuster für menschliches Verhalten heran zu ziehen.
Genau das Gleiche gilt für Hund und Wolf: Der Wolf ist anscheinend nichts anderes als ein entfernter Cousin des Hundes. Der Wolf spiegelt seine Anpassung an die Wildnis wieder, der Hund seine an das domestizierte Leben. Die zwei entfernten Cousins sind an zwei unterschiedliche Nischen angepasst, und deshalb sind sie komplett unterschiedliche Tiere.
Dieses Wissen darum ist deshalb von Bedeutung, weil der Mensch immer noch davon ausgeht, dass der Hund „Wolfsqualitäten“ hat, dass er die gleichen Verhaltensweisen besitzt, dass er genau so denkt. Wir wissen nun: Hunde haben keine Wolfsgehirne – sie denken nicht wie Wölfe. Und noch mehr: Wenn wir Menschen von unseren Hunden wolfsgleiches Verhalten erwarten und uns selber so verhalten, dann könnte es gut sein, dass wir schlichtweg nicht verstanden werden und nur für Verwirrung sorgen!
Hunde sind also anders – aber wie?
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Hunden und Wölfen: Die Vorfahren unserer Haushunde lebten nicht in Rudelstrukturen – sie waren zwar soziale, jedoch halbsolitäre Tiere!
Die Coppingers haben eine Hundepopulation auf der ostafrikanischen Insel Pemba beobachtet: Die Hunde, die dort leben, gehören niemandem und werden nicht besonders geschätzt. Sie sind einfach da. Die Coppingers gehen davon aus, dass diese Hunde nicht etwa die verwilderten Mischlinge von Rassehunden sind, die es auf Pemba ohnehin nie gegeben hat, sondern direkte Abkömmlinge der ursprünglichen Hunde – der Vorfahren unserer Haushunde.
Die Hunde auf Pemba sind, so wie „Dorfhunde“ in vielen Ländern der Welt, im Grunde keine Haustiere. Sie leben zwar den Häusern zugeordnet, haben jedoch keine Namen, lassen sich nicht rufen oder streicheln, weichen den Menschen eher aus und werden nicht gefüttert. Sie ernähren sich von den Abfällen und Resten der menschlichen Behausungen. Lebendfutter verspeisen sie in der Regel nicht. Sie verschwenden keine Energie darauf, Dinge zu verfolgen und zu jagen. Futter finden heißt für sie, sich dort zu platzieren, wo das Futter anfällt, und das ist vorzugsweise auf „Müllkippen“ und in Latrinen! Mit dem „Raubtier Wolf“ haben sie nicht mehr viel gemeinsam.
Während Wölfe quasi als Überlebensstrategie ein Rudel bilden müssen, um gemeinsam und arbeitsteilig jagen und Welpen groß ziehen zu können, ist das für die Dorfhunde gar nicht nötig. Als soziale Lebewesen sind sie zwar fähig, gemeinsam mit anderen Individuen zusammen zu leben, sie brauchen jedoch keine soziale Organisation, um Abfälle zu finden. Vielmehr sind andere Hunde sogar Konkurrenten, wenn es um das Fressen geht. Es bringt den Dorfhunden keine Vorteile, mit anderen Hunden zu kooperieren. Sie suchen nach und warten auf Futter – allein! Nur eine Mutter mit ihrem Nachwuchs wird man als Kleingruppe von meist nicht mehr als drei Tieren auf ein und derselben „Müllkippe“ zusammen leben sehen. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf menschliche Aktivitäten gerichtet – so, wie das bei unseren Hunden ist.