Alte Legenden – neu erklärt
Es gibt eine ganze Reihe geflügelter Worte, die vermutlich jeder, der in Sachen Hund aktiv ist, schon einmal gehört hat. Oder auch – was ja völlig menschlich ist – selbst schon im Umgang mit dem eigenen Hund gedacht hat. Wir haben hier ein paar dieser Phrasen aufgegriffen und entdeckt, dass vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.
„Der veräppelt mich!“
Kennen Sie das? Sie rufen Ihren Hund – und obwohl er das Herbeikommen „eigentlich“ schon gut gelernt hat, stellt er seine Ohren auf Durchzug und kommt nicht? Oder: Sie haben zuhause fleißig „Sitz“ geübt, wollen es auf dem Hundeplatz stolz vorführen – und nichts klappt? Wie peinlich! Wir Zweibeiner denken dann oft – oder bekommen gesagt: „Er KANN es doch – und zeigt mir jetzt die lange Nase?!“
Zu Ihrer Beruhigung: Ihr Hund will Sie weder veräppeln noch bloßstellen! Dass Dinge plötzlich nicht klappen, kann eine Menge anderer Gründe haben!
Einer davon ist häufig: Die Übung ist schlichtweg noch nicht intensiv genug trainiert worden! Wenn ein Hund eine Übung immer und überall können soll, dann muss sie auch in verschiedensten Umgebungen und unter verschiedensten Ablenkungen eingeübt worden sein, sonst klappt es nicht.
Warum das so ist, hat damit zu tun, wie Hunde lernen: Hunde sind Weltmeister im Wahrnehmen kleinster Details und verknüpfen sie mit der Übung. Dafür sind sie grottenschlecht darin, zu verallgemeinern. Ein Beispiel: Wenn Sie „Sitz“ immer im Wohnzimmer auf dem roten Teppich üben, dann heißt das noch lange nicht, dass es im gleichen Raum auf dem blauen Teppich ebenso klappt – erst recht nicht in der Küche, im Garten oder auf dem Hundeplatz. Wenn Sie beim Einüben des „Sitz“ bislang immer VOR Ihrem Hund gestanden haben, kann es gut sein, dass er nur „Bahnhof“ versteht, wenn Sie plötzlich NEBEN ihm stehen. Und wenn bislang immer SIE mit Ihrem Hund geübt haben, dann heißt das noch lange nicht, dass er ein anderes Familienmitglied ebenso versteht und so weiter.
Die Gelehrten streiten sich noch um eine genaue Zahl, fest steht aber: Bis eine Übung perfekt „sitzt“, also reflexartig immer und überall ausgeführt wird, sind mehrere Tausend Wiederholungen nötig. Fragen Sie sich also immer, ob Sie tatsächlich schon genug geübt haben, ehe Sie Ihrem Hund Dickschädeligkeit, Ungehorsam oder gar Bösartigkeit unterstellen!
Vergessen Sie außerdem nicht, darauf zu achten, was Ihnen Ihr Hund über seine momentane Verfassung „sagt“: Ein Hund, der scheinbar den Gehorsam verweigert, kann auch krank sein oder Schmerzen bzw. orthopädische Probleme haben! Auch sollten Sie wissen: Wenn ein Hund gerade stark abgelenkt oder aufgeregt ist, dann ist er rein physisch nicht in der Lage, Signale von uns zu empfangen – die kommen in seinem Gehirn erst gar nicht an.
„Der weiß genau, was er getan hat!“
Wohl jeder Hundehalter hat diese Situation schon einmal erlebt: Sie kommen nach Hause – und es erwartet Sie der ausgeräumte Mülleimer, die zerrissene Zeitung, der angefressene Pantoffel oder eine ähnliche „schöne Bescherung“… Je nachdem, wie groß der Schaden ist, ist ein ordentlicher Fluch vorprogrammiert. Und was macht Ihr Hund: Der kriecht auf dem Bauch, macht „gut Wetter“ oder alternativ einen großen Bogen um Sie. „Er weiß, was er getan hat – und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen“. Diese Schlussfolgerung liegt in Anbetracht seines Verhaltens nahe – und führt leider häufig auch dazu, dass wir den Übeltäter im Nachhinein noch bestrafen (schließlich ist er sich seiner Untat offensichtlich ja bewusst).
Aber Irrtum: Das „schlechte Gewissen“ gibt’s bei Hunden nicht. Sie sind noch nicht einmal in der Lage, unsere Schimpftirade mit ihren Missetaten in Verbindung zu bringen. Wenn Hunde etwas tun – sei es gut oder schlecht, dann haben wir maximal 1-2 Sekunden Zeit, darauf zu reagieren. Nur dann sind sie in der Lage, unsere Belohnung oder Bestrafung mit ihrem Verhalten in Verbindung zu bringen. Alles, was danach kommt, ist zwecklos.
Aber wie lässt sich dann das Verhalten unseres Hundes erklären, wenn er so aussieht, als wäre er reumütig? Nun, Hunde sind ziemlich sensible Geschöpfe. Sie registrieren schnell unsere Stimmung. Wenn sie merken, dass wir aufgebracht oder wütend sind, dann reagieren sie entsprechend. Einige schlagen dann einen Bogen um uns und versuchen, uns aus dem Wege zu gehen. Andere tun alles, um „gut Wetter“ zu machen und uns wieder in Stimmung zu bringen. Wieder andere haben möglicherweise gelernt: Wenn Herrchen oder Frauchen nach Hause kommen und es liegt eine zerrissene Zeitung auf dem Boden (wer sie zerrissen hat, das ist dem Hund dann nicht mehr bewusst), dann ist das nicht gut. Aber verstehen, warum wir so aufgebracht sind – das tun unsere Vierbeiner nicht.
„Er soll nicht für Futter arbeiten, sondern für MICH!“
Mal eine Frage: Was tun SIE denn umsonst? Würden Sie jeden Tag zur Arbeit gehen und gute Leistungen bringen, wenn es dafür allenfalls ein lobendes Wort gäbe? Auch, wenn Sie Ihre Arbeit gerne machen: Sie würden garantiert sparsam gucken, wenn am Ende des Monats ein Schulterklopfen und ein überschwängliches Lob von Ihrem Chef Ihre Entlohnung sein sollten. So ähnlich geht es auch Ihrem Hund. Dass Sie ihn für seine Arbeit entlohnen, ist überhaupt nicht verwerflich!
Und mal andersrum: Wenn Sie im Training auf Futtergaben verzichten würden, dann hieße das im Umkehrschluss, Sie würden Ihrem Hund alle Mahlzeiten „gratis“ servieren, quasi auf dem goldenen Tablett und ohne, dass er etwas dafür tun muss. Lassen Sie ihn doch ruhig ein wenig für sein Futter arbeiten – das müssen Sie schließlich auch für Ihr Geld! Hinzu kommt, dass es für Hunde artgerecht ist und es sie glücklich macht, einen Teil des Tages mit Nahrungserwerb zuzubringen.
Und – machen wir uns doch nichts vor: Wie sieht denn die Alternative aus? Wenn nicht die Aussicht auf eine Belohnung die Antriebsfeder für Ihren Hund ist, mit Ihnen zu kooperieren (und für die meisten Hunde ist Futter eben die Belohnung Nr. 1), dann ist es in aller Regel die Motivation, einer drohenden Strafe für unerwünschtes Verhalten oder anderen Unannehmlichenkeiten (zum Beispiel Anrempeln oder Bedrängen) zu entgehen. Und wenn ein Hund nur mitarbeitet, weil es sonst unangenehm wird, würde doch keiner ernsthaft auf den Gedanken kommen, der Hund arbeite für UNS – oder?
„Hunde dieser Rasse sind eben nicht besser zu erziehen!“
Gehört Ihr Vierbeiner auch einer jener Hunderassen an, die als irgendwie „stur“, „dickschädelig, „eigenständig“ oder „schwer erziehbar“ gelten? Sie nicken? Dann leben Sie vielleicht mit einem Dackel, einem Beagle, einem Vertreter der zahlreichen Terrier-Rassen, einem Herdenschutzhund, einem Windhund, einem Schlittenhund, einem …. zusammen? Ja, die Liste ist lang. Fast könnte man meinen, dass alle Hunde jenseits des Hütehundespektrums, deren Vertreter meist als das Maß aller Dinge genommen werden, „irgendwie schwer erziehbar“ sind. Und damit gibt’s für jeden Hund auch die perfekte Entschuldigung, wenn Dinge nicht so klappen: „Mit dem kann man nicht mehr erreichen, das liegt an der Rasse“. Oder noch schlimmer – es wird auf Druck gesetzt, um den vermeintlichen Dickschädel zur Raison zu bringen: „Der ist eben stur, und man muss sich ordentlich durchsetzen, damit es klappt.“
Suzanne Clothier hat in ihrem lesenwerten Buch „Es würde Knochen vom Himmel regnen“ einen interessanten Versuch beschrieben, den Verhaltensforscher angestellt haben. Testobjekte waren Lehrer:
Einer Gruppe von Lehrern wurden Klassen von vermeintlich talentierten, intelligenten Schülern zugeteilt. Eine andere Gruppe von Lehrern sollte Klassen unterrichten, die mit vermeintlich langsam lernenden, eher minderbemittelten Schülern besetzt waren. In Wirklichkeit gab es keine Unterschiede – in allen Klassenzimmern saßen ganz normale, durchschnittlich begabte Schüler.
Das Ergebnis des Versuches war verblüffend: Die Lehrer mit den vermeintlich talentierten Schülern waren mit den Leistungen ihrer Schüler zufrieden: Die Arbeiten fielen gut aus, die Schüler machten gute Forschritte. Ganz anders sah das bei den Lehrern aus, an deren Unterricht die angeblich langsam lernenden Schüler teilnahmen: Die Testergebnisse fielen längst nicht so gut aus, und die Fortschritte, die die Schüler machten, bewiesen den Lehrern, dass sie es tatsächlich mit minder begabten Schülern zu tun hatten.
Wie das kam?
Die Forscher fanden einen ganz erheblichen Unterschied darin, wie die Lehrer aufgrund ihrer Erwartungen lehrten: Die Lehrer der angeblich talentierten Kinder sahen jedes Problem der Kinder, den Stoff zu verstehen, als Problem der Lehre an. Da die Kinder als intelligent galten, musste die einzig mögliche Erklärung für das Verständnisproblem darin liegen, dass der Stoff nicht richtig vermittelt worden war. Die Lehrer arbeiteten also verstärkt an sich und an ihrer Art, Unterrichtsinhalte zu vermitteln – und hatten auf diese Weise Erfolge. Ganz anders war das bei den Lehrern der vermeintlich „untalentierten“ Kinder: Sie gingen davon aus, dass ein Verständnisproblem schlicht und einfach daran lag, dass sie es mit langsam lernenden Kindern zu tun hatten, deren Fähigkeit, Unterrichtsstoff zu begreifen, begrenzt war. Sie sahen sich nicht veranlasst, ihren Unterricht zu verändern – und die Ergebnisse fielen entsprechend schlecht aus.
Ein ähnliches Phänomen trifft wohl auch auf uns Hundebesitzer zu: Wir Menschen gehen davon aus, dass bestimmte Rassen besonders intelligent, dumm, stur oder faul sind. Und diese Erwartungen beeinflussen unser Handeln – und unsere Erfolge, die wir in der Zusammenarbeit mit unserem Hund haben.
Natürlich geht es nicht darum, tatsächlich existierende rassespezifische Unterschiede zu verleugnen, das wäre wohl ein wenig zu einfach! Aber meist hat das, was wir an einem Hund als dumm, stur oder faul bezeichnen, nichts mit seiner Intelligenz zu tun. Was wir dann wirklich meinen: Der Hund ist nicht in Übereinstimmung mit uns und tut nicht das, was wir von ihm erwarten. Der Fehler liegt unserer Meinung nach meistens am dickköpfigen, „dominanten“ oder ungezogenen Hund – und nicht an unserem Umgang mit ihm. Wenn wir uns über die mangelnde Lernfähigkeit unserer Hunde beklagen, offenbaren wir Menschen damit im Grunde bloß, dass wir in unserem „Werkzeugkoffer“ noch nicht das Lehrwerkzeug gefunden haben, das für unseren persönlichen Vierbeiner passend ist.
„Wenn du eine Übung absolut zuverlässig haben willst, musst du sie absichern!“
Wohl jeder, der in Sachen Hundetraining und -ausbildung aktiv ist, hat diesen Satz schon vernommen: „Positive Bestärkung schön und gut. Aaaber: Wenn Hund eine Aufgabe 100%ig sicher ausführen soll, dann muss man ‚absichern'“. Absichern heißt dann, dem Hund klar zu machen, dass das richtige Verhalten zwar belohnt wird, es aber unangenehme Konsequenzen für ihn hat, sollte er es doch nicht tun. Nur dies, so die weit verbreitete Meinung, führt zum Erfolg.
Dazu – als Denkanstoß – ein Bericht von Anne Lill Kvam über die Ausbildung von Minensuchhunden: Anne Lill Kvam, Norwegische Nasenarbeitsspezialistin und uns Hundeleuten vor allen Dingen bekannt durch ihr hervorragendes Buch „Spurensuche“ ist bereits im Jahr 1997 mit mehreren anderen Hundetrainern aus verschiedenen Ländern von einer Hilfsorganisation angestellt worden, Minensuchhunde in Angola auszubilden. Sämtliche Trainer hatten komplett andere Hintergründe, Vorstellungen und Trainingsmethoden. Dennoch musste ein gemeinsamer Trainingsweg gefunden werden – kein einfaches Unterfangen.
Einigkeit bestand jedoch relativ schnell über Folgendes: Von den Hunden wird absolute Konzentration und Zuverlässigkeit erwartet. Immerhin hängt nicht nur das Leben des Hundes, sondern auch das der Menschen, die mit im Minenfeld sind, von seinem Tun ab. Aus genau diesem Grund konnte man es sich nicht leisten, dass der Hund auch nur die geringste negative Assoziation mit seiner Aufgabe bzw. dem zu suchenden Sprengstoff verbindet.
Sprich: Aufgrund der Wichtigkeit dieser Aufgabe und des damit verbundenen Erfolgsdrucks wurde jegliche Verwendung von Strafreizen von vornherein ausgeschlossen. Auch nur die geringste negative Verknüpfung wäre ein allzu großer Unsicherheitsfaktor gewesen – gerade weil es um Leben und Tod ging…