Elternschaft statt Alphatier: die Sache mit dem Wolfsrudel
Wenn es um die Regelegung des Zusammenlebens zwischen Mensch und Hund geht, wurde lange Zeit gerne das Wolfsrudel als Vorbild herangezogen. Dabei spielten dann häufig das Streben nach Rudelführung und die Konkurrenz um Dominanz eine entscheidende Rolle. Inzwischen sind wir schlauer: Abgesehen davon, dass das Verhalten von Wölfen gar nicht mehr 1:1 auf Hunde übertragen wird (lesen Sie hier, warum das so ist), wissen wir inzwischen, wie es in Wolfsrudeln wirklich zugeht. Und dabei ist vieles anders, als man denkt …
Was man bisher glaubte
Bestimmt kennen Sie die Geschichte von der dominanten Alphahündin und dem dominanten Alpharüden, die gemeinsam das Rudel anführen? Das Leben im Rudel ist hart. Gewonnene Ränge müssen ständig gegenüber Konkurrenten aus den eigenen Reihen verteidigt werden. Mit anderen Worten: Jeder im Rudel will nach oben kommen – und wer etwas sein will, muss den anderen stets seine Vormachtstellung und Dominanz demonstrieren. Das zumindest ist – vereinfachend gesagt – die Vorstellung, die wir Menschen lange Zeit von den Geschehnissen im Wolfsrudel hatten, und die wir entsprechend auf unsere Hunde als vermeintliche „Erben der Wölfe“ im Zusammenleben mit uns übertragen haben.
Wölfe in Freiheit sind anders!
Die ganze Sache hat jedoch einen Haken: Die Beobachtungen, aus denen die bisherigen Erkenntnisse hervor gingen, sind an Wölfen gemacht worden, die in Gefangenschaft lebten: in Gruppen, die in beengten Verhältnissen leben mussten, die häufig unter Futterknappheit litten und die vom Menschen zusammen gesetzt worden sind. Keine guten Voraussetzungen für eine friedliche Wohngemeinschaft. Dass Stresslevel und Aggressionsniveau entsprechend hoch waren, muss nicht verwundern. Eigentlich nicht verwunderlich: In frei lebenden Rudeln sieht das ganz anders aus!
Die neuen Wolfsbeobachtungen: Ein ganz anderes Bild
Die Verbreitung neuerer Erkenntnisse über das Zusammenleben von Wölfen verdanken wir vor allem dem Amerikaner David Mech. Was er in jahrelanger Forschungsarbeit heraus fand:
Wolfsrudel in Freiheit bestehen stets aus Familienverbänden, mit Wolfseltern und ihrem Nachwuchs in verschiedenen Altersstufen. Und genau so wie in einer Familie geht es in diesen Rudeln auch zu: Die „Leitwölfin“ und der „Leitwolf“ sind keinesfalls strenge Autoritäten, die ihren Rang gegenüber der Konkurrenz verteidigen, sondern nichts anderes als liebevolle und fürsorgliche Eltern.
Das Zusammenleben im Wolfsrudel ist eine sehr friedliche Sache: Der Nachwuchs hat quasi Narrenfreiheit und genießt vielfältigste Privilegien: Die jungen Wölfe dürfen wild spielen, ohne zurecht gewiesen zu werden. Sie dürfen zu den Erwachsenen gehen und um Futter betteln. Diese akzeptieren das und würgen teilweise sogar Futter wieder hervor, wenn sie dazu aufgefordert werden. Übrigens zeigten sogar Beobachtung in einem schlecht gehaltenen Wolfsrudel in Gefangenschaft, dass selbst in Zeiten von Futternot die erfahrensten, älteren Tiere ihren Nachkommen Futter abgeben. Sogar erwachsene Nachkommen werden im Notfall noch von den Wolfseltern versorgt. „Ranghoch“ zu sein, hat also in erster Linie etwas damit zu tun, sich um das Wohlergehen der Rudelmitglieder zu kümmern.
Zurechtweisungen kommen im Wolfsrudel sehr selten vor. Nur im Ausnahmefall werden dem Nachwuchs die Grenzen gezeigt – und wenn, dann geschieht dies im Regelfall gewaltfrei und so gut wie ohne Körperkontakt. Falls eine Zurechtweisung nötig ist, knurrt das Elterntier. In aller Regel reicht das aus. Wirkt das wider Erwarten nicht, öffnet der erwachsene Wolf den Fang, legt ihn ganz leicht über den Fang des Wolfskindes und drückt ihn leicht nach unten. Dies alles ist völlig schmerzlos und gewaltlos und die einzige – und darüber hinaus äußerst seltene – Art, wie Wölfe ihre Nachkommen korrigieren.
Wenn sich ein Wolf einem anderen unterwirft, tut er das freiwillig. Erzwungen wird eine Unterwerfung im Rudelalltag nicht. Freiwillige Unterwerfungsgesten fördern den freundlichen Umgang miteinander und bestehen häufig aus dem Lecken der Schnauze des anderen Tieres (was übrigens häufig im Zusammenhang mit Futterbetteln auftritt und vom anderen Tier dadurch beantwortet wird, dass es Futter hervorwürgt) oder dem sich auf die Seite oder auf den Rücken Drehen, damit das andere Tier an den Genitalien oder in der Leistengegend schnuppern kann.
Insgesamt sind Wölfe Meister im Konfliktlösen. Sie vermeiden Auseinandersetzungen, wann immer es geht. Ernstkämpfe sind die absolute Ausnahme. David Mech hat innerhalb von 13 Jahren Wolfsbeobachtungen auf dem Kanadischen Ellesmere Island keinerlei Dominanzstreitigkeiten mit anderen Wölfen beobachtet.
Übrigens: Kein Anführer eines Wolfsrudels kann seine Schutzbefohlenen zu etwas zwingen. Kooperation geschieht freiwillig, „Gehorsam“ spielt im Wolfsrudel keine Rolle.
Sie möchten noch mehr wissen?
David Mech hat seine Forschungsergebnisse rund um die Geschehnisse in einem frei lebenden Wolfsrudel in einem lesenswerten Artikel zusammengefasst und bereits 1999 (!) in der Zeitschrift „Canadian Journal of Zoology“ veröffentlicht. Die deutschsprachige Fassung, übersetzt von Mag. Heidrun Krisa, können Sie sich hier herunterladen:
Und was bedeutet das alles nun für das Zusammenleben mit unseren Hunden?
Ganz abgesehen davon, dass es höchst umstritten und unwahrscheinlich ist, dass Hunde uns Menschen überhaupt in irgendeine Art von Rangordnung einbeziehen (wir sind schließlich Menschen und keine Caniden!), sollten wir folgendes im Hinterkopf behalten, wenn wir an das Zusammenleben mit unseren Hunden denken:
- Es gibt im Rudel keine heftigst verteidigte und ständig umkämpfte Rangordnung, sondern eine Familienstruktur!
- Die Rudelführer sind Eltern und zeichnen sich durch große Toleranz, Freundlichkeit und Fürsorglichkeit gegenüber ihren Schützlingen aus. Ihr Hauptanliegen ist es, ihnen Schutz zu bieten und dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht.
- Ranghohe Tiere sind absolut souverän. Niemals gehen von ihnen unberechenbare Gewaltaktionen aus. Sie bedrohen keine Rudelmitglieder.
- Nur im absoluten Ausnahmefall kommt es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Wenn ein Wolf einen anderen angreift, geht es meist um Leben und Tod. Übrigens werden deshalb auch der so genannte „Alphawurf“ oder das „Nackenschütteln“ als Disziplinierungsmaßnahme in der Hundeerziehung vom Hund als ernsthafte Angriffe auf Leib und Leben, ja sogar Tötungsabsichten, interpretiert … mit dem Risiko entsprechender Gegenwehr – ganz abgesehen von dem Vertrauensverlust in den anscheinend unberechenbaren Menschen. Unterwerfungsgesten werden im alltäglichen Umgang mit einander immer freiwillig gezeigt und niemals erzwungen.
- „Gehorsam“ spielt in einem Wolfsrudel keine Rolle.
Reflektieren wir noch mal: Wenn Sie einen Hund kennen, der sein Futter verteidigt, der Artgenossen attackiert oder gerne im Sofa liegt – glauben Sie immer noch, der Hund ist „dominant“ oder „ranghoch“? Und weil er ab und an nicht das tut, was Herrchen oder Frauchen sagt – hat das dann wirklich damit zu tun, dass er ihre „Rudelführerschaft“ nicht anerkennt?
Und – mal von der anderen Seite betrachtet: Wenn wir schon davon ausgehen, dass wir in einer rudelähnlichen Lebensgemeinschaft zusammenleben: Sind wir Hundebesitzer so, wie es Rudelführer sein würden? Sind wir stets so ruhig und souverän und bieten unserem uns ausgelieferten Hund immer die Fürsorge und den Schutz, die wir ihm schulden?
Scheint so, als könnten wir von den Wölfen noch eine Menge lernen, um bessere Chefs unseres gemischten Familienverbandes zu werden!